Nicht alles passt auf Papier
„Da muss jetzt was passieren, sonst wird das nichts“, sagt der Klassenlehrer ernst, als er ihr das Zeugnis zum Halbjahr überreicht. Eine Fünf in Deutsch - die konnte sie gerade noch so ausgleichen. Aber die Vier in Englisch zeigt bedrohlich in Richtung Fünf.
Sie hatte die Warnung ernst genommen und sich angestrengt in den letzten Monaten. Nachmittags traf sie sich seltener mit Freunden und lernte stattdessen. Sie ging nicht mehr so oft zum Schwimmen. Das war ihr größtes Opfer. Im Verein hatten sie Verständnis. „Dann bist du nach den Sommerferien wieder voll dabei!“, sagte ihr Trainer.
In den letzten Wochen vor den Ferien wurden alle Noten besprochen. Sie wusste, was auf sie zukam. Trotzdem hatte sie Herzklopfen am letzten Schultag. Sprach morgens im Bus kein Wort. „Mensch, jetzt bleib mal locker. Du weißt doch, dass du nicht sitzen bleibst!“, versuchte ihre Freundin sie aufzumuntern. Doch das Herzklopfen blieb.
Und dann hielt sie ihr Zeugnis in der Hand. Keine Fünf. Und in der Zeile „Bemerkungen“ las sie: Versetzt nach Jahrgang 10. Sie hatte es geschafft.
Und nun lagen die Ferien vor ihr. Sechs Wochen, in denen sie machen konnte, wozu sie Lust hatte und was sie gut konnte. Schwimmen wollte sie und mal wieder in der Werkstatt ihres Opas ein bisschen schrauben. „Passt eben nicht alles in ein Zeugnis, was ich kann“, dachte sie.
Am Mittwoch gibt es Zeugnisse. Noten auf Papier. Sie bilden ab, wie gut ein Schüler im Vergleich zu seinen Mitschülern ist. Sie bewerten eine Leistung. Doch über die individuellen Fähigkeiten, Neigungen und Interessen der einzelnen Schüler sagen Noten nichts aus. Unsere Kinder und Jugendlichen sind mehr als auf das Papier passt, das wir am Mittwoch in den Händen halten werden. Das sollten wir nicht vergessen.
Elsa Höffker, Pastorin der Kirchengemeinden Dassensen-Wellersen und Iber-Odagsen in der Region Leinetal-Ahlsburg
