Klang der Freiheit
Ein schweigender Zug von Menschen schiebt sich durch die Straßen. Einige Menschen mit Blumen in der Hand, auch mit Kerzen. Alles ganz still. Am Straßenrand die Herren mit den grauen Anoraks. In den Seitenstraßen Lastwagen, leer. Ungewöhnlich viele Busse heute Abend, auch leer. Volkspolizisten mit Blick in die Unendlichkeit. Eine Frau mit einer Rose in der Hand spricht einen an. Sein Blick geht durch sie hindurch. Sie geht weiter. Schweigen.
„Wenn du geschnappt wirst, ruf ganz laut deinen Namen, dann können die anderen dich suchen.“ Das war die Devise für den Ernstfall. Alle ahnen: Wenn heute etwas falsch läuft, dann gibt es eine Katastrophe.
Hinten ist die Kirche zu sehen, die Nikolaikirche. Eben noch ein gemeinsames Gebet da drinnen, für freien Atem, für den Geist der Freiheit. Jetzt sind sie draußen. Das Kopfsteinpflaster bebt leise unter den vielen Füßen. Die Frau bietet einem anderen Volkspolizisten die Rose an. Der schaut zu Boden. Die Menge geht weiter.
Und plötzlich entwickelt sich ein großer Klang: Die Kirchenglocken gehen los. Die Gesichter gehen auf. Alle schauen nach oben, auch die grauen Herren. Klang über der Menge. Viele atmen durch, das erste Mal heute. Die Glocken läuten eine andere Welt ein, eine mögliche. Die Glocken sind älter als alles andere hier. Die Frau geht wieder zu einem Vopo mit ihrer Blume. Er schaut sie an. Sie schaut ihn an. Sie reicht sie ihm. Er nimmt sie nicht, aber er weist auf das Auto vor sich. Sie lehnt die Rose an die Windschutzscheibe.
30 Jahre später, November 2019. Das Auto ist weg, die Rose auch. Die Frau zur Rose wohnt heute in einem ganz anderen Stadtteil von Leipzig. Aber manchmal geht sie noch heute absichtlich ganz nah an der Nikolaikirche vorbei, am liebsten am Samstagabend, kurz nach 18 Uhr. Und sie geht ganz langsam, weil sie dann die Glocken wieder hört und weil sie ganz heimlich weinen kann über das sanfte Wunder von damals.
Bleiben Sie neugierig!
Ihr
Daniel Konnerth,
Pastor in der Ev.-luth. Kirchengemeinde Einbeck