Das 11. Gebot
Ich war drei Jahre alt, als ich auf meiner ersten Demo war. Es gibt noch ein Beweisfoto von diesem Tag, an dem meine Eltern gegen das frisch erbaute Kernkraftwerk Würgassen demonstriert haben. Der kleine Knirps in der Kinderkarre bin ich, das Schild mit der Aufschrift „Atomkraft – nein danke!“ ist so groß, dass ich fast nicht drübergucken kann. Ich habe noch nichts kapiert, natürlich nicht. Erst als ich zwölf Jahre später die Bilder vom Anti-WAAhnsinnsfestival, jenem deutschen Woodstock in Wackersdorf, im Fernsehen gesehen habe, da habe ich verstanden. Als über 100.000 Menschen zusammen mit Rio Reiser „Somewhere over the rainbow“ gesungen haben, wusste ich, wie wichtig es ist, sich für eine saubere Umwelt einzusetzen, für die Luft, die wir atmen, für das Wasser, das wir trinken.
Das ist fast auf den Tag genau 35 Jahre her. Und natürlich frage ich mich, ob die ganze Demonstriererei etwas verändert hat. Noch immer sind alte Atomkraftwerke am Netz, noch immer werden neue gebaut – und noch sehr, sehr lange ist unsere Welt voller radioaktiver Abfälle. Wenn ich an Tschernobyl denke – auch das ist 35 Jahre her –, könnte ich heulen.
Dazu der Klimawandel: Riesige Waldflächen in Kanada und im Westen der USA brennen. Hierzulande jagt ein Extremwetter das andere, so viele Tote sind unserem Land zu beklagen.
Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind immer noch groß, vermutlich größer als die in meiner Kindheit. Aber eins hat sich verändert: Waren es bei mir meine Eltern, die mich auf die Demonstrationen genommen haben, so sind es jetzt unsere Kinder, die uns mitnehmen. Und dann setzen sie sich lautstark ein gegen den Klimawandel, gegen Atomkraft, für eine lebenswerte Erde.
Wenn wir unsere Kinder fragen: „Was ist eigentlich das wichtigste Gebot?“, lächeln wir natürlich zufrieden, wenn sie die „richtige“ Antwort geben: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden.“
Vielleicht ist es an der Zeit, die Zehn Gebote um ein elftes zu ergänzen: „Du sollst deine Kinder ehren, auf dass dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden.“
Bleiben Sie neugierig!
Ihr
Daniel Konnerth,
Pastor in der Ev.-luth. Kirchengemeinde Einbeck