„Tschernobylkind“ Daria aus Gomel besucht sein 30 Jahren Familie Jäger
„Es ist wirklich schon 30 Jahre her, dass ich erstmals zu Familie Jäger kam“, berichtet Daria Lukomskaja. Sie war damals neun Jahre alt, als ein Brief von der Familie aus Sudheim in ihrem Briefkasten in der Großstadt Gomel in Weißrussland lag. „Da war ein Foto von Familie Jäger zu sehen mit einer Einladung für einen Besuch – und meine Mutter hat gesagt: Zu der Familie darfst Du fahren.“ Dabei war sie erst strikt dagegen, erzählt Daria schmunzelnd. Ihr Opa habe heimlich einen Antrag auf Kindererholung in Deutschland auf den Weg gebracht. Und seitdem war sie als Kind und Jugendliche regelmäßig drei Monate im Sommer in Sudheim. Später kamen auch ihre Geschwisterkinder mit und als sie erwachsen war ihre beiden Kinder und ihr Mann.
Daria war eines der vielen Gastkinder, die in der Aktion „Hilfe für Tschernbylkinder“ von der hannoverschen Landeskirche zur Sommererholung eingeladen wurden. Cornelia Jäger war zunächst unsicher, ob sie sich beteiligen sollte: „Wir können kein russisch, die Kinder können kein deutsch – komm, lass es uns wenigstens probieren!“, ermutigte sie ihr Mann, Theodor Jäger, Landwirt und Kirchenvorstandsmitglied. So hatten sie die Einladung und das Foto verschickt. „Als die Kinder in einem großen Gewusel aus dem Bus in Northeim ausstiegen, suchte ich meine Gastkinder - und da zupfte mich etwas an der Jacke und vor mir stand die kleine Daria und strahlte mich an...- sie hatte mich gleich erkannt.“
Aus dieser ersten Begegnung wurde eine jahrzehntelange Familienfreundschaft. „Ich habe dann als Kind sehr schnell Deutsch gelernt“, erzählt Daria, die vom neunten bis zum achtzehnten Lebensjahr fast jeden Sommer für drei Monate Familie Jäger besuchte. Als Erwachsene hat sie dann als Dolmetscherin Kinder aus Weißrussland begleitet. Daria erinnert sich gerne an ihre ersten Eindrücke: „Nie vergessen werde ich die Farben. In Gomel war alles grau, hier aber auf dem Hof in Sudheim war es wunderschön bunt.“
Fast drei Jahrzehnte hat Cornelia Jäger gemeinsam mit einem Team die Tschernobylaktion im Kirchenkreis Leine-Solling organisiert und tat dies auch weiter nach dem Tod ihres Mannes. In den vielen Jahren vermittelte sie – unterstützt von einem Team – zahlreiche Kinder aus der Region Gomel in Gastfamilien in der Region. „Durch den Ferienaufenthalt wurde das Immunsystem der Kinder gestärkt und das Blutbild verbessert“, erinnert sich Cornelia Jäger, außerdem erlebten die Kinder aus Weißrussland einen unbeschwerten Sommer mit Ausflügen, Festen und Familienanschluss.
Im nächsten Jahr jährt sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zum 40. Mal. Am 26. April 1986 kam es dort zur Kernschmelze und zu Explosionen. Als die radioaktiven Wolken wohl radioaktiven Regen brachten, untersagten auch in Deutschland viele Eltern in Deutschland ihren Kindern, im Sandkasten zu spielen, im See zu baden und bei Regen nach draußen zu gehen. Wie schlimm war dies erst für Familien in Weißrussland, dachte damals Cornelia Jäger, die sich später bei Reisen nach Weißrussland selbst ein Bild vor Ort machte. Fast ein Viertel des Landes wurde dort langfristig mit Cäsium, Strontium und Plutonium verseucht. Eine der mit am schlimmsten betroffenen Regionen Weißrusslands war das Gebiet Gomel mit der gleichnamigen Großstadt mit rund 500.000 Einwohnern.
Aus dieser Region haben Cornelia Jäger und ihr Team jährlich rund 20 Gäste zur Sommererholung eingeladen und in Familien vermittelt, unter ihnen Schulkinder und Dolmetscherinnen sowie Eltern mit Kleinkindern und junge Erwachsene. Flug und Versicherung zahlte die Landeskirche, der Kirchenkreis unterstützte Angebote vor Ort und die Gastfamilien sorgten für Unterbringung und Verpflegung. Nach der Coronapandemie wurde die Hilfsaktion dann nicht wieder aufgenommen. Viele private und persönliche Bindungen wie die der Familie Jäger mit Daria und ihrer Familie sind geblieben. „Ich bin sehr dankbar, dass so viele Familien im Landkreis Northeim Kinder aus der Region Gomel bei sich zuhause im Sommer aufgenommen haben“, sagt Cornelia Jäger.
„Viele haben sich damals gewundert, dass ich ausgerechnet nach Deutschland fahre“, erzählt Daria: „Die Wunden des 2. Weltkrieges waren noch überall. Aber ich habe gesagt: Dort leben liebe Menschen. Sie haben mir in meinem Leben sehr viel bedeutet und mein Leben vom Kopf auf die Füße gestellt.“