Niemand hatte das Kreuz so recht beachtet. Es stand schon immer da, am Rand des Friedhofs. Es war alt, von Büschen umgeben und fiel auch gar nicht weiter auf. Irgendwann war das alte Kreuz auf dem Friedhof dann umgestürzt. Es geschah bei einem Sturm, mitten in der Nacht. Das Holz war ja auch längst morsch, das war abzusehen, sagte der Friedhofswärter. Er kam mit einer Karre und transportierte die Balken ab.
Es dauerte nicht lange, da fiel jemandem auf – etwas fehlte! Die Frau, die das Grab ihres Mannes pflegte, sprach eine andere Friedhofsbesucherin an. Und bald war das umgestürzte Kreuz ein Ortsgespräch. Manche fragten, wo das alte Kreuz denn überhaupt gestanden habe. Andere sagten: Wir machen ein Neues. Ebenfalls aus Holz. So wie das alte. An derselben Stelle. Ein Verein machte das Angebot. Und wenn wir es aufstellen, soll der Pastor eine Andacht halten. Gesagt, getan.
Das Kreuz: Am Karfreitag werden wir uns an seine Geschichte erinnern. Jesus trug dieses Kreuz durch Jerusalem. Vor den Toren der Stadt, auf dem Hügel namens Golgatha, wurde jenes Kreuz errichtet. Mit Nägeln wurde Jesus an das Kreuz geschlagen, grausam hingerichtet. Bis heute unvergessen.
Darum finden wir das Kreuz auf Friedhöfen und in Kirchen. Aber nicht nur dort. Es steht an Wanderwegen als Ort der Andacht. Manchmal steht es grob gezimmert am Straßenrand zur Erinnerung: Dort ist ein Mensch ums Leben gekommen. Und manch ein Künstler des Mittelalters schnitzte das Kreuz kunstvoll für einen Altar, umgeben von einem Bilderbuch der Passionsgeschichte. Das Kreuz – ein trauriges Zeichen? Nicht nur!
Das Kreuz auf dem Friedhof ist für mich viel mehr. Ein Balken verläuft parallel zur Erde und der andere zeigt in den Himmel. Himmel und Erde sind verbunden im Kreuz. Denn Karfreitag ist ja nicht das Ende der Geschichte. Jesus starb auf grausame Art. Aber Ostern werden wir davon hören, dass er von den Toten auferstand.
Darum ist das Kreuz bis heute auch ein Zeichen der Hoffnung. Darum schmückt ein Kreuz an einer Kette, aus Silber geschmiedet, eine junge Frau. Und bei einer fröhlichen Taufe zeichnet die Pastorin oder der Pastor das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn des Kindes. Und was tut manch ein Fußballprofi, wenn er ein Tor erzielt? Er schlägt wie im Reflex ein Kreuz auf dem Trikot.
Das Kreuz verbindet Sportler und Trauernde, Regisseure und Künstler sowie diejenigen, die in der Corona-Krise in ihrem Leben eingeschränkt sind. Das Kreuz sagt: Ja, es gibt Leid und Trauer. Aber eben nicht nur. Gott steht zu seinem Wort. Und darum gibt es immer Hoffnung. Im Leben und im Tod.
Jan von Lingen