Masche für Masche
Seit mehr als einem Jahr stricke ich Socken. Angefangen hat alles mit einer großen Tüte Restwolle von Tante Marianne. Tante Marianne bestrickte unsere Familie über viele Jahre. Doch ihre Augen wurden schlechter und ihre Finger langsamer. Irgendwann gab sie das Stricken ganz auf. Ich war immer davon ausgegangen, dass ich nie in meinem Leben Socken stricken würde. Doch als mir klar wurde, dass Tante Marianne nun als Sockenlieferantin für unsere Familie ausfällt, da setzte ich mich vor ein youtube-Video und begann. Anfangs ziemlich verkrampft, aber es ging immer leichter und von Socke zu Socke wurde ich immer schneller.
Sockenstricken entspannt mich sehr. Die Hände wissen, was sie tun ohne nachzudenken. Aber gleichzeitig – und das ist das Schöne am Stricken – habe ich eine genaue Vorstellung von dem, wie die Socke werden soll. Ich habe beim Stricken das Ende schon vor meinem inneren Auge. Es ist eine Übung im „Ich schaffe es“. Jede selbstgestrickte Socke eine kleine Heldentat. Und mein Gehirn konnte mal eben eine Verschnaufpause machen beim Wälzen der großen Probleme unserer Zeit.
Ich glaube ich stricke gar nicht so langsam. Trotzdem brauche ich 27 Stunden für eine Socke. 27 Stunden Lebenszeit, die ich für nichts anderes nutze als den Faden wieder und wieder mit sich selbst zu verschlingen und von der Nadel gerutschte Fäden wieder aufzunehmen. Damit etwas Ganzes draus wird. Beim Stricken handle ich im Glauben an etwas, sei es auch etwas Kleines. Ich sage damit: Es ist mir wichtig. Ich gebe nicht auf.
Stunde um Stunde, Masche für Masche, gefallene Maschen wieder aufnehmen – manchmal glaube ich das Stricken ist ein Gleichnis für das Leben.