Die Praxis des Glaubens
Schon Martin Luther predigte am Ende seines Lebens vor halb leeren Kirchen. Wenn in der Religion alles Gnade ist, dann brauche ich am Sonntag auch nicht mehr zur Kirche gehen. Das hatten die Menschen damals schon verstanden. Und trotzdem hielt Martin Luther an der neu entdeckten Freiheit des Glaubens fest: „Der Mensch wird vor Gott nicht gerecht durch das Befolgen irgendwelcher Regeln, sondern allein durch den Glauben“, so hatte es Paulus im Brief an die Römer festgehalten (Römer 3,28).
Interessanterweise gibt es einen anderen Vers im Neuen Testament, der genau das Gegenteil aussagt: „So seht ihr nun, dass der Mensch durch Taten gerecht wird, nicht durch Glauben allein.“ Martin Luther übersetzte den Vers aus dem Jakobusbrief zuverlässig, aber sodann schob er den ganzen Brief ans Ende des Neuen Testaments. Dort steht er in evangelischen Bibelausgaben bis heute.
Wer hat denn nun Recht: Paulus oder Jakobus? Vielleicht sind es eher zwei Seiten einer Medaille. Egal, wie ich mich anstrenge, meine guten Taten bleiben immer unvollkommen, vor Gott und den Menschen. Ich kann die Welt nicht retten. Und trotzdem setze ich mich weiter ein. Das Engagement für die Menschen kann auch außerhalb der Kirche geschehen. Diese Freiheit begann mit Martin Luther. Mein Interesse an der Welt zeigt mir, dass mein Glaube lebendig ist.
Matthias Lüskow, Pastor in der Kirchengemeinde Leine-Weper