Wo nur Buchsbäume wachsen
In meiner westfälischen Heimat wachsen keine Palmen. Da wachsen Buchsbäume. Nirgends wuchsen sie besser als bei Oma im Garten. Gingen bei anderen die Buchsbäume ein, musste Oma nur einen kleinen Ast in die Erde stecken und er schlug Wurzeln. In ihrem Schlafzimmer gab es auch einen kleinen Zweig vom Buchsbaum. Er steckte hinter dem riesigen Kruxifix neben ihrem Bett. Als kleiner Junge blickte ich hoch zu diesem etwas furchteinflößenden Wandschmuck und wunderte mich: Was sollte das? Hatte sie den Ast etwa dort vergessen? Nein, unmöglich. Das konnte nicht sein. Oma vergisst nie etwas.
Als Jesus nach Jerusalem einzog, bereiteten ihm die Menschen den Weg. Sie rollten ihm den grünen Teppich aus: ein Weg aus Palmzweigen, für den König. Wäre Jesus nicht nach Jerusalem eingezogen, sondern nach Bielefeld, wären es vielleicht Zweige von Buchs gewesen. So dachten sich wohl auch andere und deshalb bekommt man vielerorts an Palmsonntag in der Kirche einen kleinen Buchsbaumzweig in die Hand gedrückt. Diesen stecken viele hinter das Kruzifix an der Wand. So wie meine Oma.
Als ich vor einigen Wochen in das Pfarrhaus nach Dassel zog, entdeckte ich im Garten einen Buchsbaum. Ziemlich vertrocknet. Dennoch freute ich mich. Am Palmsonntag habe ich mir vorgenommen, einen Zweig davon abzuschneiden und hinter das Kruzifix zu stecken. Und wenn ich dann darauf schaue, erinnert mich das: Hier wachsen keine Palmen, weder in Bielefeld noch in Dassel. Hier ist nicht Jerusalem. Und doch gilt das, was dort passierte, für mich: Er kommt. Auch nach Bielefeld und Dassel. Wo nur Buchsbäume wachsen und keine Palmen. Und wie von ferne und doch ganz nah höre ich die Stimmen rufen: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“
